Ruhrkrise 1923 aus transnationaler und regionaler Perspektive

Ruhrkrise 1923 aus transnationaler und regionaler Perspektive

Organisatoren
Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen; Historische Kommission für Westfalen; Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets
PLZ
44789
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
13.09.2023 - 15.09.2023
Von
Alexander Olenik, Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde; Johann Frehse, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen

Die Tagung umfasste ein ambitioniertes zweieinhalbtägiges Programm. In 20 Vorträgen, verteilt auf insgesamt sieben thematisch untergliederte Sektionen, sollten nicht weniger als die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets vor 100 Jahren in transnationaler und regionaler Perspektive behandelt werden. Die Veranstalter, STEFAN BERGER (Bochum), FRANK M. BISCHOFF (Duisburg) und MECHTHILD BLACK-VELDTRUP (Münster), hoben in ihrer gemeinsamen Begrüßung hervor, dass es die Absicht der Tagung sei, durch die Kombination einer transnationalen wie landesgeschichtlichen Herangehensweise die Interessen der Reichsregierung, Preußens, der Besatzer Frankreich und Belgien, der vermittelnd agierenden Staaten und Organisationen zu hinterfragen sowie lokale und regionale Unterschiede aufzuzeigen. Ausgeklammert blieben die Entscheidungen auf Reichsebene sowie die internationalen Anstrengungen, die sich um eine diplomatische Lösung des Konfliktes bemühten.

ROBERT GERWARTH (Dublin) entwarf in seinem eröffnenden Abendvortrag am 13. September das Bild einer „multifaktorischen Krise“, denn 1923 schien vieles aus Sicht der Weimarer Republik Negatives möglich. Die „Ruhrkrise“ verortete Gerwarth darüber hinaus als Symptom des europäischen „Nachkriegs“ zwischen 1918 und 1924. Für den internationalen Kontext seien zwei Phänomene wichtig: Die Nachkriegsordnung der Pariser Vorortverträge etablierte nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs Besatzungsregime, UND ein Kennzeichen des „Nachkriegs“ war die „civilianisation“ und Paramilitarisierung von Gewalt in Europa. In beiden Fällen stehe, so Gerwarth, die „Ruhrkrise“ beispielhaft für die europäische Nachkriegskrise und ihre Ausprägungsformen. Durch das Einsetzen deeskalierenden Krisenmanagements in den Konfliktregionen – an der Ruhr ab dem 26. September 1923 mit dem Abbruch des „passiven Widerstandes“ – folgte eine europaweite Phase der Entspannung.

Die erste Sektion am 14. September widmete sich den transnationalen Aspekten der Krise. STEFAN BERGER (Bochum) skizzierte die politische Positionsbestimmung der britischen Labour Party in der Ruhrfrage. Während die Parteilinke den Deutschen skeptisch gegenüberstand, betrachtete die Parteimehrheit die Ruhrbesetzung als „act of war“ gegen das Deutsche Reich und solidarisierte sich mit den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern. Labour kritisierte bereits 1921 den Versailler Vertrag und das Reparationsregime als ungerechtfertigte Hypothek für das demokratische Deutschland. Die Interessenkongruenz zwischen den britischen und deutschen Arbeiterparteien bestand nach Kriegsende fort. Mit Delegationsreisen ins Ruhrgebiet weckte Labour ferner Erwartungen auf deutscher Seite. Berger plädierte, diese zivilgesellschaftlichen Kontakte in der internationalen Geschichte der „Ruhrkrise“ stärker zu berücksichtigen.

BENEDIKT NEUWÖHNER (Marburg) fragte in seinem Referat, wie in der britischen Außenpolitik sowie in der britischen Besatzungszone vor Ort auf den Ruhreinmarsch reagiert wurde. Die Regierung in London habe eine europäische Gleichgewichtspolitik in globaler Dimension verfolgt, die während der Krise an der Ruhr wenig durchdacht vorgetragen wurde, aber nach deren Beendigung mit dem Dawes-Plan erfolgreich war. Gegenüber der französischen Besetzung des Ruhrgebiets verhielten sich die britischen Regierungsverantwortlichen kritisch-neutral. Infolge der Hyperinflation hatte die mehrheitlich bürgerlich-konservative Funktionselite des Empire große Sorge vor dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in der Kölner Zone durch Kommunisten und Separatisten. Das Besatzungspersonal vor Ort „got on with the Germans“ im Rahmen der indirect rule und wurde zunehmend Frankreich-skeptisch. Die britische Besatzungsbehörde habe die französische Politik unterminiert, indem dem „passiven Widerstand“ deutscher Institutionen Handlungsspielräume gewährt wurden, während der Verkehrsknoten Köln für die französisch-belgischen Kohlentransporte gesperrt war.

Ein Vortrag von ANNE GODFROID (Brüssel) über die Rolle der belgischen Diplomatie während der „Ruhrkrise“ war zum Bedauern der Veranstalterinnen und Veranstalter abgesagt worden.

In der zweiten Sektion stand das Verhältnis von Verfassung, Recht und Gewalt im Vordergrund. Aus der Perspektive des Verfassungs- und Völkerrechts blickte CHRISTOPH GUSY (Bielefeld) entlang von 13 Thesen auf die Ruhrkrise. Gusy ging der Frage nach, welche verfassungs- und völkerrechtlichen Konsequenzen aufseiten der Deutschen und der Entente aus der Ruhrkrise gezogen wurden. Er beklagte das Fehlen komparatistischer Ansätze. Auf beiden Seiten habe 1923 die Absicht zur Revision des Versailler Vertrages dominierte. Im Hinblick auf das Völkerrecht beriefen sich beide Seiten auf Einzelbestimmungen des Versailler Vertrages und auf das Argument der Notwehr. Für die Verfassungskrise im Deutschen Reich sei die Ruhrkrise 1923 hingegen Auslöser, Verstärker und Katharsis zugleich. Fortan sei die „Logik des geringsten Übels“ vorherrschend gewesen. Das Notstandsrecht wurde neujustiert und veränderte die Verfassungsrealität. 1923/24 sei Ausdruck der Personalisierung von Funktionsfähigkeit der Republik auf den Reichspräsidenten.

GEORG MÖLICH (Köln) erläuterte in seinem Vortrag die Weimarer Reichsverfassung als politischen Bezugspunkt für regionale Aktionsformen im Westen Deutschlands. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die prodemokratischen Demonstration nach der Ermordung Walter Rathenaus; ebenso der Verfassungstag am 11. August. Hier seien Verfassung und Reichseinheit miteinander verknüpft worden. Anschließend stellte der Vortragende die Verfassungsfeiern der Jahre 1923 bis 1930 vor. Ob in Berlin oder im Rheinland (sofern nicht von der Interalliierten Rheinlandkommission verboten), es handelte sich immer um prominent organisierte Veranstaltungen unter dem Schutz der Reichsregierung. Die gehaltenen Ansprachen waren nicht zwangsläufig klassische Verfassungsreden. Mölich warb dafür, sich einer Akzeptanzgeschichte der Weimarer Republik über diese Festtage anzunähern.

Die kommunale Ersatzpolizei stand im Mittelpunkt des Vortrags von DANIEL SCHMIDT (Gelsenkirchen). Nach dem französischen Einmarsch wurde die paramilitärisch ausgerüstete Sicherheitspolizei kollektiv entwaffnet und ausgewiesen; ebenso Freikorps und Reichswehr. Sie war in den Anfangswochen der Besetzung dem Dilemma ausgesetzt einerseits dem „passiven Widerstand“ zu folgen und andererseits ihre Dienstpflichten zu beachten. Als den verbliebenen staatlichen Sicherheitskräften die Kontrolle über die öffentliche Ordnung entglitt, anerkannten die preußischen Stellen den Bedarf für eine kommunale Ersatzpolizei und akzeptierten damit die französischen Bedingungen inkl. Grußregime. So erhielten erstmals polizeiferne Schichten, v.a. Gewerkschaftsangehörige, diese Berufschance. Eine Besonderheit der Ruhrgebietspolizei bis 1933 waren hierdurch das proletarische und lokale Element ihres Personals.

Nach der Mittagspause wurde die Tagung mit der dritten Sektion über wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Aspekte der Ruhrkrise fortgesetzt. RALF STREMMEL (Essen) referierte über die Konsequenzen der französisch-belgischen Besetzung für die Schwerindustrie. Die Industrie akzeptierte anfangs den „passiven Widerstand“ und somit das Primat der Politik. Beschlagnahmungen im großen Stil sowie von Verhaftungen und Ausweisungen steigerten das moralische Kapital der Unternehmen. Gekennzeichnet war diese Anfangsphase auch von einer gemeinsamen Solidarität zwischen Regierung, Industrie und der Arbeitnehmerschaft. Als die Ruhrindustriellen im passiven Widerstand keine Erfolgsaussichten mehr sahen, vollzogen sie Mitte Mai einen Kurswechsel, bei dem den Interessen der Wirtschaft Priorität eingeräumt wurde. Nachdem die Unterstützungszahlungen an die Industrie eingestellt wurden, rückte die Konfliktbeilegung in den Vordergrund, die letztlich zur Unterzeichnung der MICUM-Verträge führte. Um den nach Ende der „Ruhrkrise“ entstandenen Vorwurf, die Unternehmen hätten sich am „passiven Widerstand“ bereichert, zu prüfen, fehlen mikroökonomisch-betriebswirtschaftliche Studien zu einzelnen Unternehmen. Stremmel kam zu dem Fazit, dass im Ergebnis ein struktureller Opportunismus, außer-ökonomische Antriebskräfte (z.B. Patriotismus) mit persönlichem Risiko, Sicherheitserwägungen sowie das Misstrauen in demokratisch-parlamentarische Problemlösungskompetenz eine Rolle spielten.

Die sozio-ökonomischen Konsequenzen der „Ruhrkrise“ untersuchte STEFANIE VAN DE KERKHOF (Mannheim) für die in der belgischen Besatzungszone gelegene Textilindustrie am mittleren Niederrhein. Damit verschränkte sie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte während der Besatzungszeit. Zwar zielten die Belgier auf das Offenhalten von Liefer- und Absatzmärkten, aber Verkehrsbehinderungen und Mangel während der Besatzung waren weit verbreitet. Die Seiden- und Samtindustrie wurde von einer Luxus- zu einer Versorgungsindustrie sowie anfälliger für Konkurrenz aus dem Ausland. Damit setzten sich Vorkriegs-Konzentrationsprozesse (Verseidag-Gründung) fort. „Industrienothilfe“ von Stadt und Handelskammer wurden zu einem Faktor für Innovation, Design und Rationalisierung.

Zum Abschluss der Sektion berichtete HEIN A.M. KLEMANN (Rotterdam) über die Konsequenzen der Ruhrbesetzung für die Niederlande. Vor 1914 sei der Raum Niederrhein-Ruhrgebiet-Niederlande ein transregionales Wirtschaftsgebiet gewesen; mit Rotterdam als zentraler Import-Export-Hafen für die Ruhrindustrie und engen Verflechtungen zwischen deutschen und niederländischen Unternehmen. Erst der Erste Weltkrieg habe den gemeinsamen Wirtschaftsraum durchbrochen und Nationalökonomien geschaffen. Nach Kriegsende hatte sich die niederländische Wirtschaft breiter aufgestellt und war finanziell mit Reserven ausgestattet. Als Finanzstandort wuchs Amsterdams Bedeutung und die niederländische Zentralbank stützte nach 1918 die deutsche Wirtschaft mit Krediten. Die französische Ruhrbesetzung bedeutete jedoch lediglich „a short backlash, not a collapse“ für die ökonomische Gesamtsituation der Niederlande.

Die vierte Sektion der Tagung und finale Sektion des Tages beschäftigte sich mit den Phänomenen Migration und Mobilität. GUIDO THIEMEYER (Düsseldorf) nahm die supranationale „Zentralkommission für die Rheinschifffahrt“ während der Ruhrkrise in den Blick. Der Rhein war erstmals direkt betroffen, als im Januar 1923 die deutschen Arbeiter und Reedereien, z.T. unterstützt von ausländischen Kollegen, streikten. Frankreich beschlagnahmte Binnenschiffe, die mit Kohle beladen waren. Der „passive Widerstand“ legte in dieser Phase die Verkehrsader lahm. Mithilfe der institutionengeschichtlichen Perspektive sei jedoch, so Thiemeyer zu erkennen, dass in der Zentralkommission Einigkeit herrschte über den Verstoß der französisch-belgischen Blockade gegen die Rhein-Konvention. Im Kontext der Neufassung der Rhein-Schifffahrtsakte habe zwischen den Spezialisten auf deutscher und französischer Seite die Möglichkeit des Ausgleichs bestanden. Für die „Ruhrkrise“ als Krise des Rhein-Raums wäre in Form dieser epistemischen Gemeinschaft das Instrument der politischen Nutzbarmachung ökonomischer Konzepte vorhanden gewesen.

MECHTHILD BLACK-VELDTRUP (Münster) beschloss den ersten Tagungstag mit ihrem Vortrag über die Praxis der Ausweisungen deutscher Beamter als Reaktion auf den „passiven Widerstand“. Auf Quellenbasis der Akten der Bezirksregierung Münster erläuterte Black-Veldtrup das Phänomen der Ausweisungen im nördlichen Ruhrgebiet als Teil eines Bestrafungssystems, zu dem auch die Verhaftung ohne Verfahren sowie Geld- und Haftstrafen gehörten. Die Ausweisungen betrafen auch die Mitarbeiter von Stadtverwaltungen, wodurch in den Kommunen des besetzten Gebietes oftmals lediglich Rumpfverwaltungen zurückblieben. Für die Ausgewiesenen, deren Besitz häufig beschlagnahmt wurde, wurde ein institutionalisiertes Hilfsangebot im nicht-besetzten Gebiet durch Hilfsstellen geschaffen. Es entwickelten sich regelrechte Dienststellen im nicht-besetzten Gebiet, die relativ lange bestanden. Bei der Durchführung von Ausweisungen, so Black-Veldtrup griffen die Franzosen auf Klassifizierungspraktiken zurück, die sie nach 1918 bereits in Elsass-Lothringen angewandt hatten. Die Referentin schlug in diesem Zusammenhang vor, einen Städtevergleich anzustellen.

Der zweite Tagungstag wurde mit einer Sektion über preußische und regionale Aspekte eröffnet. ULRICH KOBER (Berlin) referierte über das Verhältnis von Reich und Region in der Reaktion der preußischen Zentralregierung in der Ruhrkrise. Der Referent zeigte auf, dass Preußens Einfluss im Reich geschwunden war. Der Staat suchte aktiv Anschluss an die Reichspolitik in Finanzierungs- und Ernährungsfragen, beim Separatismus und bei extremistischen Herausforderungen. Häufig sei die preußische Staatsregierung dabei „im Dunkeln getappt“. Das Reich regierte in das besetzte Gebiet hinein ohne Preußen zu konsultieren. Kober veranschaulichte hiermit ein Schlaglicht auf das Verhältnis Reich-Preußen.

MARK HAARFELDT (Bochum) beschrieb im Anschluss die deutsche Propaganda während der Ruhrbesetzung. Als Fanal ermöglichte sie staatlichen und privaten Stellen ein Anknüpfen an die „Ideen von 1914“. Die Propaganda kam schon vor dem Einmarsch präventiv zum Einsatz. Als Empfängerkreis bezog man die Arbeiterschaft mit ein. Motive der vor allem bildlichen Propaganda seien die „Schwarze Schmach“, kulturelle Unterschiede, Fehlverhalten der Besatzer sowie ein Appell an Reich und Nation (nicht die Republik) gewesen. Der Abbruch des „passiven Widerstandes“ wurde ebenfalls in der Propaganda vorbereitet. Der Referent veranschaulichte zudem anhand des westfälischen Propagandisten Johann Plenge wie falsch komponierte Propaganda (Westfalentrotz) keine Resonanz bei ihrer Zielgruppe an der Ruhr fand.

Überlegungen zum Zäsurcharakter des Jahres 1923 stellte MARTIN SCHLEMMER (Duisburg) an. Die deutsch-französischen Spannungen beeinflussten die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts, auf das sich sowohl rheinische Separatisten als auch die Reichsregierung beriefen, sowie das Verhältnis von Separatismus und Pazifismus. Für ein transnationales Phänomen wie die Modeberichterstattung bedeutete 1923 wohl keine entscheidende Zäsur. Der Themenkomplex des Rheinstaatsgedankens werde hingegen bis heute auf das Jahr 1923 hin verstanden und diskutiert.

Mit dem Beitrag von KAI SCHÄDER (Dortmund) über die Denkschrift eines Dortmunder Verwaltungsbeamten „Unter französischen Bajonetten“, der verlesen wurde, rückten lokalgeschichtliche Aspekte des historischen Ereignisses in den Vordergrund.

HENDRIK CRAMER (Düsseldorf) veranschaulichte die Besetzung des Ruhrgebiets als Arbeitergeschichte. Zwischen Konfrontation und Kooperation spielte sich der von Lebensmittelknappheit geprägte Arbeitsalltag der Arbeiterinnen und Arbeiter in Bochum ab. Auch hier gab es Kundgebungen vor dem Einmarsch, in denen die Arbeiter adressiert wurden, ereigneten sich Zusammenstöße während des „passiven Widerstands“ und trat Nahrungsmittelknappheit auf, auch hervorgerufen durch Beschlagnahmung. Existentielle Bedeutung erhielten dadurch Importe aus dem unbesetzten Gebiet, Hilfsleistungen aus neutralen Drittstaaten und durch die französischen Verkaufsstellen. Cramer zeigte, dass im Monat Mai die Rolle der Arbeiterschaft von konfrontativ zu kooperativ gegenüber den Franzosen wechselte, als die Politik der Reichsregierung und der Arbeitgeber durch die Inflation in die Kritik geriet.

ANDREAS PILGER (Duisburg) betonte in seinem Vortrag, dass trotz der Besatzung Entscheidungen meistens nicht willkürlich oder diktatorisch gesetzt, sondern ausgehandelt wurden. Anhand von drei Beispielen aus der Überlieferung der Stadt Duisburg (Einquartierungen, Übergriffe von Soldaten und Ausweisung des Oberbürgermeisters) beschrieb Pilger die Konfliktregulierung in Form von „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann). Anders als es die zeitgenössische Propaganda auf deutscher Seite verlautbarte, zeigten sich die belgischen Machthaber auch bei Konflikten gesprächsbereit.

Die abschließende Sektion über „Alltag, Kirche und Kultur“ begann mit einem hybriden Vortrag von ARMIN SCHLECHTER (Speyer) über die französische Kulturpolitik. Ihr kulturimperialistisch-zivilisatorischer Anspruch habe sich in der Realität durch Einschränkung der Freiheitsrechte und schwere Strafen ausgezeichnet. Frankreich zielte auf die Stärkung seines Einflusses auf die Grenzgebiete, den die französische Seite auf kulturellem Gebiet mit der „pénétration pacifique“ zu erreichen suchte. Es strebte an, die Forderung nach der Rheingrenze wissenschaftlich zu untermauern. Gleichzeitig sollte durch eine gezielte Sprachförderung ein zweisprachiges Rheinland entstehen. Trotz verschiedener „soft power“-Ansätze blieb die Kulturpolitik erfolglos, da ihre Ziele absehbar blieben und dem französisch inszenierten Kulturaustausch die Augenhöhe fehlte.

Im Anschluss problematisierte MARGRIT SCHULTE BEERBÜHL (Düsseldorf) den Grenzalltag im besetzten Ruhrgebiet in der Zeit des „passiven Widerstands“. Das Leben mit und an der Grenze war im östlichen Ruhrgebiet eine neue Erfahrung. Verschiedene (alltagskulturelle und ökonomische) Praktiken lassen sich entlang des z.T. unklaren Grenzverlaufs beobachten. Im Ergebnis fand an der Grenze eine ständige Missachtung und Subversion derselben statt. Sogar die französischen Besatzer stellten durch Grenzverletzungen die Grenze infrage.

Wie rasch sich die Positionen der politisch Verantwortlichen 1923 änderten, demonstrierte KEYWAN KLAUS MÜNSTER (Bonn) anhand des Kölner Erzbischofs Karl Joseph Kardinal Schulte. In seinem Auftreten ursprünglich ein konzilianter Gesprächspartner für alle Seiten entschied sich Schulte mit dem Jahreswechsel 1922/23 für einen konfrontativen Kurs gegen Frankreich. Er verurteilte die Ruhrbesetzung und appellierte an die Einheit der Deutschen. Eng damit verbunden war die Suche des Kardinals nach Perspektiven für das Glaubensleben. Trotz einer eigenen professionellen Auslandspropaganda warb Schulte gegenüber dem katholischen Ausland und dem Vatikan erfolglos um Unterstützung. Durch die Anschläge im „passiven Widerstand“ diplomatisch isoliert und infolge der Lebensmittelkrise an der Ruhr änderte Schulte seine Strategie. Er habe, so Münster, sich selbst deeskaliert. Damit bliebe der Pragmatismus der wirkliche rote Faden der erzbischöflichen Rheinlandpolitik.

In Ihrem Schlusswort unterstrichen die Veranstalter den Mehrwert hinter einer Wahrnehmung des Rhein-Ruhr-Raums als transnationale Zone in Westeuropa. Durch das Zusammenführen lokaler, regionaler, nationaler und übernationaler Perspektiven konnte die Dichotomie des Konfliktes aufgebrochen werden. Das Ruhrgebiet war ökonomisch mit seinen Nachbarregionen, aber auch mit weiter entfernt gelegenen Gegenden entlang des Rheins sowie politischen mental maps in Europa verflochten. So konnten regionale, nationale und transnationale Motive der Akteure mehrfach aufgezeigt werden. Gewalt kristallisierte sich als zentrale Erfahrung heraus und war oftmals handlungsleitend. Zahlreiche Diskussionsbeiträge deuteten die Chancen an, die eine breitere Einbeziehung von Quellen in ausländischen Archiven bieten. Für den Tagungsband besteht hier noch Potential. Gleiches gilt für die Überlieferung zu den transnationalen Kontakten verschiedener pressure groups (Gewerkschaften, Kirche, Arbeitgeber usw.).

Konferenzübersicht:

Abendvortrag

Robert Gerwarth (Dublin): Die Ruhrbesetzung im Kontext der internationalen politischen Entwicklung der 1920er Jahre. Eine Einordnung

Sektion I: Transnationale Aspekte

Stefan Berger (Bochum): Die britische Labour Party und die Ruhrkrise 1923

Benedikt Neuwöhner (Marburg): Eine Insel der Seligen? Das britisch besetzte Rheinland im Schatten der Ruhrkrise

Sektion II: Verfassung, Recht und Gewalt

Christoph Gusy (Bielefeld): Die Ruhrkrise als Verfassungs- und Völkerrechtskrise

Georg Mölich (Köln): Die Weimarer Reichsverfassung als politischer Bezugspunkt für regionale Aktionsformen im Westen seit 1922

Daniel Schmidt (Gelsenkirchen): Zwischen den Fronten – Polizei im Ruhrgebiet im Krisenjahr 1923

Sektion III: Wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Aspekte

Stefanie van de Kerkhof (Mannheim): Sozio-ökonomische Konsequenzen der Ruhrkrise für die rheinische Industrie

Ralf Stremmel (Essen): Taktik, Risiko und Überzeugung. Reaktionen der Industrie auf die Ruhrbesetzung

Hein Klemann (Rotterdam): Economic mobility during the 1923 Ruhr Crisis. Rhine navigation between the Netherlands and Germany

Sektion IV: Migration und Mobilität

Guido Thiemeyer (Düsseldorf): Die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt in der Ruhrkrise

Mechthild Black-Veldtrup (Münster): „…ausgesetzt auf der Lippebrücke“. Ausweisungen als Reaktion der Besatzer auf den passiven Widerstand

Sektion V: Preußische und regionale Aspekte

Ulrich Kober (Berlin): Zwischen Reich und Region. Wahrnehmung, Handlungsspielräume und Reaktionen der preußischen Zentralregierung in der ‚Ruhrkrise 1923‘

Mark Haarfeldt (Bochum): „Eine hehre Begeisterung wie 1914“. Über die deutsche Propaganda während des passiven Widerstandes im Ruhrgebiet

Martin Schlemmer (Duisburg): Das „Krisenjahr“ 1923 als Zäsur? Ein vergleichender Blick auf regionale und nationale Aspekte der Ruhrkrise in transnationalen Kontexten

Sektion VI: Lokalgeschichtliche Aspekte

Kai Schäder (Dortmund): Französische Besatzung in Dortmund aus Verwaltungssicht

Hendrik Cramer (Düsseldorf): Konfrontation und Kooperation. Leben im besetzten Bochum 1923-1925

Andreas Pilger (Duisburg): Legitimation durch Verfahren? Strategien der Konfliktregulierung zwischen Militärregierung und einheimischer Politik, Verwaltung und Bevölkerung während der Ruhrbesetzung in Duisburg

Sektion VII: Alltag, Kirche und Kultur

Armin Schlechter (Koblenz): Frankreichs Kulturpolitik in seinen Besatzungszonen

Margrit Schulte Beerbühl (Düsseldorf): Alltagserfahrungen im besetzten Ruhrgebiet (1923-1925)

Keywan Klaus Münster (Bonn): Eine „Lebensfrage des Katholizismus“ zwischen Abwehrfront und Lernprozess. Beobachtungen zum Erzbistum Köln während der Ruhrbesetzung 1923/1924